Therapiesucht  - oder ein Hinweis auf die Igniologie

Ernst Pöppel

Ich spreche hier nicht über die zehn Prozent, die wirklich eine Therapie benötigen; ich spreche hier über die anderen neunzig Prozent.

Dies gesagt vermute ich, daß sich dennoch die meisten zu den zehn Prozent zählen, die einmal mit Therapien als Empfänger (Nutzer, Patienten, Klienten) zu tun hatten. Es geht einem selbst immer am schlechtesten.

Als ich nach San Diego flog, saß neben mir ein freundlicher Herr, der beim Landeanflug seine Zeitschrift zur Seite legte, die Augen schloß und eine ungewöhnliche körperliche Haltung trotz der Enge annahm.

"You know what I did?" fragte er als wir unten waren. "I meditated". Ich hatte ihn nicht gefragt. Das war vor vielen Jahren der erste Kontakt mit der kalifornischen Psycho-Szene, die sich mit Erfolg verbreitet hat.

Grundprinzip "To let it all hang out." Auch wenn man nicht gefragt hat, wird man zum Zeugen gemacht, als Seelen-Voyeuristen mißbraucht. Die Exhibition des einzelnen, der uns einlädt, in seine seelischen Abgründe zu schauen, wird Unbeteiligten - und Uninteressierten - zum Konsum aufgezwungen.

Und dann muß man auch noch zuhören. Den größten Erfolg dieser öffentlichen Ausbreitung des Intimen erleben wir gerade mit Monica's Ergüssen, die uns ein gerechtigkeitstriefender amerikanischer Kongreß im Internet zumutet.

Hier hat eine junge Frau eine juristische Untersuchung in eine therapeutische Séance verwandelt, und dies offenbar ohne Gegenwehr schamloser Juristen, die diese Selbstentäußerung zuließen.

Sonderermittler Starr und sein Stab in der Rolle von Therapeuten, ohne es zu merken, instrumentalisiert von einem Zeitgeist, in dem sich Gerechtigkeit als Heuchelei verkleidet, Lustsucht als Prüderie maskiert und innere Haltlosigkeit als therapeutische Dauerforderung beansprucht miteinander vermischen.

Und das ist dann der größte Erfolg unserer Therapiegesellschaft, wenn man in anderen Kontexten schon garnicht mehr spürt, daß m an sich in einem therapeutischen Umfeld bewegt.

Zurück zu San Diego: Ich war auf dem Weg zu einem mehrwöchigen Kursus über Gesprächspsychotherapie mit Carl Rogers, empfohlen von einem Guru der deutschen Psycho-Szene.

Es waren wunderbare Wochen; herrliches Wetter, ein schöner Strand am Pazifik, gute Tennisplätze, mäßiges Essen - und eine erstaunliche Bereitschaft der Teilnehmer, Dinge über sich zu erzählen, die niemanden etwas angingen, die niemanden interessierten - und die furchtbar langweilig waren.

Faszinierend zu beobachten wie mit voyeuristischem Blick, etwas abgefedert durch den therapeutischen Blick, der empathische Zuwendung, den Selbstpreisgaben Gehör geschenkt wurde. Nur wenige lenkten den Blick schamvoll zur Seite, wenn etwas zu intim wurde.

Aber dann wurde man auch mit den leidvollen Trivialitäten des Alltags konfrontiert. Da erzählte jemand voller Tragik, daß er ein Buch nicht fertig schreiben könne, und tagelang zelebrierte er sein Unvermögen vor anderen.

Ich fragte ihn nicht, ob es denn so wichtig sei, ein Buch zu schreiben, sondern ich machte ihm den Vorschlag, ein paar organisatorische Prinzipien zu berücksichtigen wie z.B. regelmäßig jeden Tag einige Zeilen zu schreiben - und sich dazu jeden Tag zu zwingen.

Natürlich kann man jetzt entgegnen, daß ein neurotisches Arrangement oder eine Depression es eben unmöglich mache, sich zu einer Tätigkeit zu zwingen, deren Ergebnis man herbeisehnt.

Aber: Anstrengungslos ist nichts zu haben. Er schaute mich bei der Erörterung einiger lebenstechnischer Maßnahmen einigermaßen verblüfft an, als ich immer wieder darauf bestand, sich selber einer gewissen Disziplin zu unterwerfen. "Est modus in rebus", sagt Horaz; es ist ein Maß in den Dingen.

Viel wird heute darüber diskutiert, daß wir uns im Übergang befinden von der Industrie- in die Informations- oder Wissensgesellschaft. Das ist natürlich in einer gewissen Weise richtig, wenn wir eine Außenperspektive einnehmen.

Man könnte uns aber auch als "analgetische Gesellschaft" bezeichnen, wenn wir die Innenperspektive einnehmen. Jede Art von Schmerz, jede Zumutung, jede Anstrengung, jede Konzentration ist schon zuviel.

Allerdings scheint auch hier die 90/10-Regel zu gelten; was ich sage trifft für die neunzig Prozent zu; die heutige Zweiklassen-Gesellschaft legt die ganze Arbeitslast auf die zehn Prozent, die es irgendwie schon richten werden, daß möglichst alle anstrengungslos in die Zukunft gehen können.

Wenn es mir schlecht geht, werden die Gründe hierfür sofort sozialisiert. Andere sind schuld an meiner Misere, und so sind auch andere dafür verantwortlich, daß es mir wieder besser geht.

Die Optimierung meiner Befindlichkeit verlangt den Einsatz aller Kräfte - nur nicht der eigenen. Dieser Zeitgeist spiegelt sich in wunderbarer Weise in der Definition der Gesundheit durch die WHO: Körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden - und dieses möglichst vermittelt durch andere, die sich in geeigneten Verbünden institutionalisiert haben.

Ich glaube, daß sich unsere Identität nur ausprägen kann, wenn wir den Schmerz auch einmal zulassen - und die Lust.

Wenn wir mit einer analgetischen Grundeinstellung jeden Schmerz weg-therapieren, haben wir kaum eine Gelegenheit zu prüfen, wie wir uns unter Belastung bewähren, wie wir es schaffen, Schwierigkeiten zu überwinden, wer wir eigentlich sind. Die Überwindung einer Krise stets nur mit Hilfe des anderen, das verletzt unseren Stolz, und eine solche Überwindung ist auch kaum erfolgreich.

Es gibt ein Grundgesetz der psychologischen Lernforschung, das besagt, daß nur durch eigene Aktivität, durch Autonomie, ein Lernerfolg zu erzielen ist. Man muß es selber machen, wenn man ein Problem gelöst haben will.

Die Einstellung, mit Hilfe anderer therapiert zu werden, verwirrt häufig, endet in Ratlosigkeit und verursacht große Kosten. Wenn eine Therapie erfolgreich war, dann hat man etwas an Selbstreflexion gewonnen, die sich aber in einem eindrucksvollen Verlust von Spontaneität zeigt.

Der freundliche Herr aus dem Flugzeug nach San Diego suchte dringend Kontakt; ich solle ein Interview für "Sports Illustrated" geben über Psychologie und Sport, denn ich hatte ihm erzählt, daß die beste Therapie körperliche Aktivität, als vor allem Sport, aber natürlich nicht Sport, sei.

Das Resultat dieses Interviews war dann der knappe Satz: "To stay on the court keeps you off the couch." Und das glaube ich auch. Wir sind in erster Linie motorische Wesen, die sich bewegen müssen.

Die sessile Lebensweise, die in der Internet-Gesellschaft zunimmt, spinnt uns immer mehr ein in virtuelle Welten. Wir bewegen uns durch die ganze Welt, aber nur virtuell, und sitzen dabei reglos vor einem Bildschirm, der uns Zugang zur wunderbarsten Zeitvernichtungsmaschine, die man sich vorstellen kann, eben dem Internet, verschafft.

Außer der Beanspruchung der Finger und des Rückens (mit Rückenschmerzen als Konsequenz), geschieht körperlich garnichts.

Aber dann - irgend wann einmal - wenn wir nach körperlicher Anstrengung, begleitet von heftigem Schwitzen und einem deutlich erhöhten Puls, uns niedersetzen, den Blick vielleicht geöffnet haben für den herbstlichen Baum im Garten, dann erleben wir uns als jemand anders.

Dann sind wir "ganz bei uns", uns selber nah, dann glauben wir, alles meisternn zu können, dann gibt es keine Sorgen, dann ist alles in Ordnung, und dann wundern wir uns vielleicht, daß es nicht immer so ist. Die Vernachlässigung des Körperlichen hat überhaupt erst zur Überbewertung der Therapien geführt.

Was sich hier in unserer körperlosen Gesellschaft verbirgt, ist ein versteckter Dualismus unserer Zeit, der die Moderne in ihrer Lebensgestaltung gekennzeichnet hat. Seele und Körper werden als ganz verschiedene Einrichtungen angesehen, die im Prinzip nichts miteinander zu tun haben, allerdings bei uns menschlichen Wesen in einen Leib zusammengezwungen wurden - für eine gewisse Zeit.

Mit einer solchen Grundeinstellung, die man auch "cartesisch" bezeichnen kann, da René Descartes die Trennung von Leib und Seele am Beginn der Neuzeit am schärfsten formuliert hat, kann man dann so tun, als ließe sich Seelisches unabhängig vom Körperlichen therapieren.

Eine solche Einstellung ist falsch, und ich möchte gleich einige Gründe aufführen, warum Therapien nicht funktionieren können, die nicht von Einheit des Menschlichen ausgehen, die also die Seele vom Körper abstrahieren.

Wenn die Seele vom Körper abgezogen wird, dann ist ist es vielleicht nicht mehr so verblüffend festzustellen, wieviele Therapien es gibt. Mir passiert es immer wieder, daß ich im Gespräch mit einer neuen Therapie konfrontiert werde, von der ich noch nie etwas gehört habe, und die offenbar unerhört erfolgreich ist.

Da ich mir dabei immer etwas töricht vorkomme, habe ich in den letzten Jahren eine Therapie ins Gespräch gebracht, von der ich erzähle, daß sie aus Korea übernommen wurde.

Ich bin dann außerordentlich vewundert, daß mein Gesprächspartner noch nicht davon gehört hat (manche meinen allerdings, schon damit bekannt zu sein). Der Leser hat es richtig vermutet: es handelt sich um die Igniologie, der ich eine große Zukunft voraussage. Die Grundkonzeption der Igniologie ist ganz einfach.

In der Geschichte haben sich Therapien häufig bestimmte körperliche Regionen, oder sogar den ganzen Körper zur Beurteilung ausgewählt, wie die verschiedenen Typologien, die Phrenonologie, die Chiromantie, die Physiognomik und andere mehr. Auffällig ist, daß ein Körperbereich, der zwar zugänglich, doch an der Grenze zum Intimbereich liegt, bei manchen Kulturen mehr, bei anderen weniger, noch nicht für eine psychologische Diagnostik erschlossen wurde, die wiederum einer Therapie zugänglich gemacht werden kann, nämlich die Kniekehle. In der Zeichnung der Linien der Kniekehle, der Beanspruchung durch Stehen und Gehen, spiegelt sich die Dynamik der Lebensgeschichte wider. Man kann dieses Spiel entwickeln, und mit einem Gesicht vorgetragen, gibt es nur wenige, die diese Blödelei enttarnen können.

Neben der Igniologie gibt es viele Therapien, die ernst zu nehmen sind oder von denen gesprochen wird.

Jede Therapie ist in einer Schule organisiert, und wie es sich für Sekten gehört, müssen ihre Regeln dogmatisch eingehalten werden. Da gibt es natürlich die klassische Therapie der Psychoanalyse mit ihren vielen Ausläufern.

Ein Ableger der Psychoanalyse war die Primärtherapie, um die es merkwürdig still geworden ist. Andere Therapien sind Daseinsanalyse, Gestalttherapie, Ganzheitstherapie, Systemtherapie, Gruppentherapie, Neurolinguistisches Programmieren, Gesprächstherapie, Logotherapie, Mortita-Therapie oder Verhaltenstherapie. Auffällig ist, daß viele den Anspruch erheben, "alles" therapieren zu können trotz des unterschiedlichen Ansatzes oder des jeweils ganz anderen Menschenbildes, das den Therapieformen unterliegt.

Warum können manche Therapien nicht funktionieren, auch wenn dies natürlich von den Vertretern der in Frage kommenden Therapieformen heftig bestritten wird? Um dies zu beantworten, muß ich einen kleinen Ausflug in die Hirnforschung machen.

Ich spreche dabei als ein erkenntnistheoretischer Monist, also als jemand, für den Körper und Seele nicht getrennte Substanzbereiche sind, die nur miteinander interagieren.

Wer sich einer solchen Position von vornherein verschließt (was man tun kann), kann hier die Lektüre beenden. Grundlegende These ist, daß alles an unserem Seelenleben, unsere Erinnerungen, Gefühle, Wahrnehmungen, willentlichen Handlungen, Pläne, ja sogar unsere Identität abhängig ist von Mechanismen des Gehirns.

Kommt es zu spezifischen Störungen, verblassen die Erinnerungen (wie  bei der Depression), verlieren wir unsere Identität (wie bei manchen Schizophrenien) oder zerbricht unser Weltbild (wie bei manchen Wahrnehmungsausfällen).

Man kann zeigen, daß alles an unserem psychischen Repertoire bei Patienten verloren gehen kann - also muß es im Normalfall einen Prozeß im Gehirn geben, verbunden mit bestimmten Strukturen, der das übliche psychische Repertoire bereitstellt.

Weil dies so ist, kann man als pragmatisch geneigter Mensch die monistische These, daß also Leibliches aus einem Prinzip zu erklären ist, und das Leibliche beziehen wir in unserer Umgangssprache auf Seelisches und Körperliches.

Nun fragen wir uns, wie psychische Vorgänge in unseer Lebensgeschichte entstehen. Hier gilt das Selektionsprinzip - so wie es in allgemeiner Weise für die Evolution gilt.