Was Wissen sein könnte

Erschienen in: „Festina lente“, Festschrift für Hubert Burda zum 70. Geburtstag, Petrarca Verlag, 122-125, 2010


Ernst Pöppel

Es geht um Wissen. Es geht um mein Wissen.

Wissen gibt es nur im Wissenden. Also jeweils nur in mir.

Wie bestimmt sich der Wissende in seiner Identität? Wie weiß ich, wer ich bin?

Einerseits durch die Komplementarität von Selbstbestimmtheit und den Bezug zu anderen, durch Autonomie und Kommunikation.

Andererseits weiß ich, wer ich bin, durch die Komplementarität von Selbstbegegnung und Betrachtung.

Komplementarität ist als generatives Prinzip zu verstehen und steht der monokausalen Erklärung entgegen.

Ich muss mich davon befreien, immer nach nur einer Ursache zu suchen; ich kann mich nicht nur aus einem Prinzip erklären.

Selbstbegegnung steht einerseits für die unreflektierte Leiblichkeit, das implizite und intuitive Wissen über mich selbst und andererseits für die bildliche Begegnung mit mir selbst in meinen Erinnerungen.

Betrachtung steht für die reflexive und retrospektive Rekonstruktion meiner selbst, das explizite Wissen, das sprachlich verankerte Begründen von Sachverhalten.

Selbstbegegnung ist „Ich-nah“; Betrachtung ist „Ich-fern“.

Wissen im Wissenden ist somit dreifach begründet, nämlich als Ich-fernes explizites Wissen über Sachverhalte, und als implizites sowie bildliches Wissen.

Der Sachverhalt, der mit Außenperspektive „Ich-fern“ betrachtet wird, kann ich auch selber sein.

Das Verbindende der drei Formen des Wissens ist in formaler Hinsicht das „ästhetische Prinzip“, in inhaltlicher Hinsicht das „mimetische Prinzip“.

Wissen ist immer Abbilden, dabei ästhetischen Prinzipien gehorchend.

Wo und wann „geschieht“ Wissen?

Wissen verwirklicht sich im Wissenden in einem räumlichen Bezug, also an einem Ort, und in einem zeitlichen Bezug, also in der Gegenwart.

Wissen im Wissenden ist also immer hier und jetzt.

Doch was ist ein Ort, und wo ist er jeweils?

Und was ist die Gegenwart, und hat sie womöglich eine Dauer?

Aus der Ich-nahen „Innenperspektive“ ist der Ort Heimat, die Vertrauen gibt und verlässlich ist.

Aus der Ich-fernen „Außenperspektive“ hat Gegenwart als zeitliche Bühne des Erlebens eine Dauer von nur wenigen Sekunden.

Wissen im Wissenden, dem ich als wissen Wollender traue, ist Orts-verankert und vorüber gehend, manchmal als Einfall wie ein Blitz, mit Beginn und Ende.

Wenn Wissen immer hier und jetzt ist, wie ist es dann möglich, dass ich über Wissen überhaupt sprechen kann, das Unabhängigkeit von Ort und Gegenwart, vom räumlichen und zeitlichen Bezug voraussetzt?

In mir als Wissenden konstituiert sich die Identität des Gewussten.

In jeder Gegenwarts-Insel von wenigen Sekunden wird Bezug genommen auf einen geistigen Inhalt – eine Wahrnehmung, ein Gefühl, eine Erinnerung, eine Absicht -, die jeweils mit sich selbst identisch sind.

Gewährleistung von Identität des Gewussten und Erkannten ist Grundlage des Lebens überhaupt, vom Einzeller bis zum Menschen.

In der jeweils nächsten Gegenwarts-Insel wird diese Identität bestätigt oder verworfen.

Somit ist es die Komplementarität von Identität im Augenblick und Dynamik, also der jeweils bestätigten oder erneuerten Identität im nächsten Augenblick, der Bezug zu etwas Bestimmten und die innere Bewegung, die Kontinuität des Wissens im Wissenden ermöglicht.

Eine Besonderheit: Der Wissende kann sein Wissen nicht für sich behalten; er berichtet es anderen und er spricht auch zu sich selbst.

Der Wissende kann sich gleichsam neben sich stellen und über sein Wissen reflektieren.

Diese Reflektion kann sich auf alle Formen des Wissens beziehen, auf das Wort, das Bild, die Handlung.

Indem der Wissende Wissen mitteilt, setzt er unreflektiert beim anderen Ordnungsstrukturen voraus, die mitgeteiltes Wissen verstehbar machen.

Diese vorausgesetzten Ordnungsstrukturen des Verstehens können transparent werden, wenn der Wissende eine Außenperspektive zu sich selbst einnimmt.

Der Wissende entwickelt mögliche Strukturen des Wissens, wobei wiederum „Komplementarität als generatives Prinzip“ gilt, dass also Struktur und Prozess des Wissens zusammen gedacht werden müssen, und dass die explizit gemachte Ordnung des Wissens immer schon ein implizites Ordnungswissen voraussetzt, da sonst Kommunikation mit anderen nicht möglich wäre.

Erfolgte und erfolgreiche Kommunikation ist notwendige Bedingung für die Bestimmung der eigenen Identität, die Komplementarität von Selbstbestimmtheit und Bezug zu anderen.

Und schließlich noch eine Komplementarität, jene von Bescheidenheit und Stolz: Ich weiß, dass ich nicht weiß – wohl wahr; aber es gilt auch: Ich weiß, dass ich weiß.