Was geschieht beim Lesen? – Was geschieht durch Lesen?

Ernst Pöppel

Erschienen in gekürzter Form mit dem Titel  „Was geschieht beim Lesen?“ in:  Aus Politik und Zeitgeschichte, bpb, 42-43/2009, 12. Oktober 2009:  Zukunft des Buches, S. 40 – 45

Die Frage, was denn beim Lesen geschehe, kann aus Sicht der Hirnforschung und Psychologie mehr oder weniger präzise beantwortet werden; ehrlicher Weise sollte man sagen, wohl weniger präzise.

Doch bevor ich mich dieser Frage zuwende, möchte ich einige kritische Bemerkungen zum Lesen überhaupt machen, wobei ich bei jenen, die sich dem Lesen als einer Kulturtechnik besonders verpflichtet fühlen, von vornherein um Vergebung bitte.

Ich meine allerdings, dass meine Überlegungen nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, wobei mir auch klar ist, dass ich mir mit meinen abseitigen Betrachtungen keine Freunde machen werde.

Also: Mir ist unverständlich, warum man das Lesen als eine Kulturtechnik so besonders hoch hängt, und dass man beklagt, dass die Lesekompetenz in unserer Kultur verschwindet. Vielleicht hat das ja auch etwas Gutes, dass das Lesen im Rahmen der digitalen Revolution in Gefahr kommt. Ich bin gerne bereit meine Thesen, deren Wahrheitsgehalt meines Erachtens schwer zu bestreiten sind, beherzt zu verteidigen.

Lesen ist für unser Gehirn eine der unnatürlichsten Tätigkeiten überhaupt. Ich gehöre berufsbedingt zu den intensiven Lesern und verbringe damit täglich mehrere Stunden.

Aber mir ist klar, dass ich damit eigentlich mein Gehirn missbrauche. Lesen ist von Natur aus nicht vorgesehen gewesen, sondern ist von Menschen als eine Kulturtechnik erfunden worden.

Irgendwann einmal in der Geschichte entdeckte man, dass man die Abfolge von Sprachlauten oder die Abfolge von Wörtern und Begriffen verbildlichen kann und damit eine visuelle Darstellung der gesprochenen Sprache erhält. Es haben sich im Wesentlichen zwei Formen des Lesens entwickelt:

Einmal sind es die Alphabetschriften, bei denen eine eins-zu-eins-Zuordnung von Sprachlauten und Buchstaben versucht wird. Diese Umwandlung von Ton in Bild ist prä-semantisch, also vor aller Bedeutung des Gesagten.

Und dann gibt es dagegen die bildlichen Schriften, früher einmal die Hieroglyphen und jetzt die Piktogrammschriften wie sie im Chinesischen oder im Kanji des Japanischen verwendet werden, oder auch die sehr konkrete Bildschrift Dongba, die im Süden Chinas an der Grenze zu Myanmar noch verwendet wird.

Hier wird durch das Schriftzeichen selber Bedeutung mitgeteilt, und es handelt sich um eine prinzipiell andere Abbildung von Ton, der gesprochenen Sprache also, und visuellem Symbol, seiner bildlichen Darstellung also. In diesem Fall trägt das Schriftzeichen anders als beim Buchstaben bereits Bedeutung.

In gewisser Weise kann man sagen, dass die Piktogrammschriften den Bedürfnissen des Gehirns näher kommen, da Bildliches bereits mit Bedeutung aufgeladen ist, was generell für Objekte der visuellen Wahrnehmung gilt, denn sonst könnten wir nicht sehen; das ist nur eine andere Formulierung einer These von Immanuel Kant:

„Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“. Piktogrammschriften sind aus meiner Sicht „natürlicher“, auch wenn sie offenbar relativ mühsam zu erlernen sind, weil es eben viele Tausende von Schriftzeichen gibt.

So nimmt es denn nicht wunder, dass die Hirnareale, die sich mit dem Lesen von Alphabetschriften und von Piktogrammschriften befassen, verschieden sind.

Piktogrammschriften beanspruchen in einem größeren Maße Areale der rechten Gehirnhälfte, während Alphabetschriften stärker die linke Gehirnhälfte beanspruchen.

Hierzu gibt es eindrucksvolle Belege aus Studien in Japan  mit Patienten, die Störungen einer Gehirnhälfte hatten. Im Janpanischen gibt es neben der klassischen chinesischen Schrift des Kanji auch noch zwei alphabetartige Schriftsysteme, nämlich das Hiragana und Katagana.

Patienten mit Funktionsstörungen der rechten Gehirnhälfte im Hinterhauptsbereich verlieren nur die Fähigkeit, Kanji zu lesen, wobei die Kompetenz für die Alphabet-artigen Anteile der Schrift erhalten bleiben, während bei Läsionen der linken Gehirnhälfte die Kompetenz für Kanji verschont bleibt.

Solche Dissoziationen der beiden Gehirnhälften beim Lesen sind für Alphabetschriften nicht bekannt, bedeuten aber, dass in verschiedenen Regionen dieser Welt das Gehirn beim Lesen in sehr unterschiedlicher Weise ausgebeutet wird.

Wir sprechen heutzutage mit einer großen Faszination und auch Angst von der „digitalen Revolution“.

Die eigentliche Revolution hat aber mit der Erfindung der Schrift selbst stattgefunden, und diese Revolution hatte erhebliche kulturelle Konsequenzen, über deren Ausmaße wir uns üblicherweise keine hinreichenden Vorstellungen machen.

Ich vertrete die These, dass bestimmte philosophische Fragestellungen, insbesondere das Leib-Seele-Problem, mit dem man sich als Hirnforscher auch herumschlagen muss, Artefakte der Schriftsprache sind.

Indem ich mich von dem gehörten Wort löse, das die unmittelbare Kommunikation kennzeichnet, wenn ich also den Text aufschreibe, gewinnt dieser Text ein Eigenleben. Er wandert in ein Archiv und löst sich damit von der unmittelbaren Kommunikation.

In solchen dokumentierten Texten, insbesondere bei den Alphabetschriften, gehen aber wesentliche Merkmale der unmittelbaren Kommunikation verloren. Insbesondere muss man hier an die Prosodie der Sprache denken, dass also Intonationsmuster Gefühle zum Ausdruck bringen, von denen im schriftlichen Text abstrahiert wird.

Eine wesentliche Konsequenz der Erfindung des Lesens ist somit nach meiner Einschätzung, dass wir in unserem Kulturkreis die Vorstellung entwickelt haben, als gäbe es nur das explizite Wissen, das sich in Worten festhalten lässt, das in Büchern und Enzyklopädien und jetzt auch in der Google-Welt des Internets dokumentiert ist.

Ein wesentlicher Betrag der modernen Hirnforschung ist sicher, und hierzu habe ich eine eigene Theorie entwickelt, dass es mindestens drei Formen des Wissens gibt, die komplementär zueinander stehen.

Wir machen uns zu Karikaturen unserer selbst, wenn wir nur eine Wissensform in den Blick nehmen. Neben dem expliziten Wortwissen gibt es eben auch das bildliche Wissen, das in den Piktogrammschriften stärker repräsentiert ist, und es gibt vor allem das implizite, intuitive und emotional aufgeladene Handlungswissen.

Der Verzicht auf die Gleichberechtigung dieser beiden anderen Wissensformen, des bildlichen und impliziten Wissens, ist eine Konsequenz der eigentlichen kulturellen Revolution, nämlich der Erfindung des Lesens.

Nebenbei sei bemerkt, dass die Unkenntnis darüber, dass Piktogrammschriften und Alphabetschriften jeweils unterschiedliche Areale des Gehirns beanspruchen, zu Missverständnissen in der interkulturellen Kommunikation führen kann. Schriftliches in beiden Lesekulturkreisen führt jeweils zu unterschiedlichen Assoziationsfeldern,

und häufig werde ich davon überrascht, wie verschieden Denkabläufe bei meinen Freunden in Japan oder China sind, mit denen ich wissenschaftlich zusammen arbeite. Dies liegt meines Erachtens an den unterschiedlichen Prägungen, wenn wir in der Kindheit das eine oder das andere Schriftsystem zum Ausdruck unserer Gedanken lernen.

Ein besonderes Problem des Hirnforschers ist wie gesagt das Leib-Seele-Problem, wie also das materielle Gehirn als Substanz in Wechselwirkung steht mit dem, was wir als Geist oder Seele, das Mentale also, bezeichnen.

Die Entdeckung des Problems kann nur als ein Artefakt verstanden werden, dass durch die Verschriftlichung von gesprochenen Worten diese sich selbstständig gemacht haben und es auch zum Ontologisieren gekommen ist, dass wir also dazu verführt werden, den schriftlich fixierten Begriffen eigene Identitäten im Gehirn zuzuordnen.

Abläufe des Gehirns im Denken, Entscheiden, im Wahrnehmen und Fühlen, sind immer prozessual zu sehen. In dem Augenblick, in dem wir Substantive erfinden, die diese einzelnen Prozesse festhalten sollen, befinden wir uns bereits in der Sprachfalle.

Dann kann man sich nur wundern, dass manche Hirnforscher, die in dieser Sprachfalle sitzen, im Gehirn nach dem Sitz des Bewusstseins, der Willensfreiheit, den Gefühlen, der Intelligenz und dergleichen suchen.

Dies sind alles Gebrauchswörter, mit denen wir zwar notwendigerweise kommunizieren, die aber nicht in dem Sinne missverstanden werden dürfen, dass es im ontologischen Sinn tatsächlich das gibt, was begrifflich angesprochen wird:

Das Bewusstsein, die Erinnerung, der Wille, die Intelligenz, der Glaube, die Liebe, die Freiheit; und in der Neuro-Ökonomie sucht man inzwischen nach dem Kaufknopf im Gehirn. Wörter führen in die Irre.

So ist das Leib-Seele-Problem für Menschen, die nicht lesen können, überhaupt kein Problem. Wer käme auf die Idee, Körperliches oder Seelisches voneinander zu trennen? Wenn die moderne Hirnforschung einen Beitrag geleistet haben sollte, dann ist es die Beobachtung, dass das, was immer wir an uns beobachten können, verloren gehen kann.

Subjektives geht verloren durch den Verlust von Hirnsubstanz nach einem Schlaganfall oder Trauma oder durch andere Störungen des Gehirns. Damit liefert der Verlust einer Funktion ihren eigenen Existenzbeweis, denn verloren gehen kann nur, was es auch gibt. Wir sind also geradezu aufgefordert zu einer monistischen Position bei der Analyse unseres Seelenlebens, also des Leib-Seele-Problems, begründet in einem empirischen Realismus.

Es gibt für mich aus wissenschaftlicher Sicht keinen Zweifel an dieser Position. Der Dualismus, also verschiedene Substanzen Leib und Seele anzunehmen, die „res extensa“ und die „res cogitans“, wie es René Descartes getan hat, ist in diesem Sinn ein Denk-Artefakt letzten Endes bedingt durch die Erfindung der Schrift.

Aber: Die Erfindung des Lesens als wohl größte kulturelle Revolution war nur möglich, weil das Gehirn hinreichend flexibel ist, um sich neuen Aufgaben zu widmen, doch die Areale des Gehirns, die neuronalen Programme, werden neu gestaltet und fremd bestimmt, und es kommt zu einem Verzicht der ursprünglichen Funktionszuordnung neuronaler Systeme. Was könnten wir nicht alles, wenn wir nur nicht lesen müssten!

Das menschliche Gehirn wird durch Lesen missbraucht, mit den genannten durchaus negativen kulturellen Konsequenzen. In diesem Sinne habe ich überhaupt keine Probleme mit modernen technologischen Entwicklungen, bei denen die bildliche Repräsentation von Sachverhalten stärker betont wird, dass man also endlich Abstand nimmt von der Überbetonung des Lesens als Kulturtechnik. Mit Hilfe neuer Technik wird ein langer Missbrauch des Gehirns überwunden.

Nun zum Lesen selber und was hierbei geschieht: Zunächst aber noch eine kleine Vorbemerkung. Mir fällt auf, dass üblicherweise nicht zwischen den zwei Formen des Lesens unterschieden wird, die auch wieder etwas mit unserem Gehirn zu tun haben.

Es gibt einerseits das Lesen im Hinblick auf Sinnentnahme aus Texten, wenn man also beispielsweise einen wissenschaftlichen Text liest.

Für mich ist es ein großes intellektuelles Vergnügen, philosophische Texte zu lesen, vorzugsweise von Immanuel Kant, und die oft betrübliche Erfahrung zu machen, mit welcher Anstrengung es verbunden ist, das von Kant Gemeinte aus dem Text zu extrahieren.

Da ich die Angewohnheit habe, Texte auswendig zu lernen, die mir besonders wichtig sind, so habe ich bei Stellen aus der „Kritik der reinen Vernunft“ die Erfahrung gemacht, dass ich dies bei Kant nicht schaffe.

Irgendein Wort schlüpft immer durch, und es geht mir wirklich um die absolut exakte Repräsentation seines Textes in meinem Gehirn. Wie ist das möglich? Es spricht natürlich nicht gegen Kant, dass jemand über 200 Jahre später seine Texte nicht genau aus dem Gedächtnis heraus reproduzieren kann, sondern wohl eher für Kant:

Manche Gedanken sind so schwierig zu formulieren, dass die Wörter nur ungefähr umschreiben können, was gemeint ist. Man schreibt geradezu um einen Gedanken herum, und man ringt um Worte.

Kant ist in diesem Sinne also ehrlich und simuliert nicht Klarheit, wo sie nicht besteht. Bei theoretischen Texten, die mir völlig klar erscheinen, bin ich inzwischen recht misstrauisch geworden: Ist es denn wirklich so klar, wie der Autor meint?

Und dann gibt es zweitens das Bild-generierende oder Geschichten-generierende Lesen, wie es in Romanen oder in einem Gedicht versucht wird. Hier wird eine innere Stimme genutzt, um ein bildliches Drama auf der Bühne des inneren Erlebens zu entwerfen.

Diese Form des Lesens hat eine ganz andere Bedeutung und auch Begründung in den neuronalen Prozessen unseres Gehirns. Jeder Leser entfaltet eine eigene Bildgeschichte, die mit ihm selber abgestimmt ist. Dieses Lesen ist mit Ich-Nähe der Identität des Lesers verpflichtet. Hier wird das Gedicht oder die Episode Teil des Lesers selbst.

Ich identifiziere mich mit der Handlung, und die Bildsequenz der Handlung ist je meine eigene. Dies ist beim Lesen mit der Absicht auf Sinnentnahme ganz anders, denn hier geht es immer darum, Teilhabe am allgemeinen Wissen zu erzeugen; insofern ist dieses Wissen auch eher Ich-fern.

Wir müssen also von zwei prinzipiell verschiedenen Formen des Lesens ausgehen. Für mich als Wissenschaftler mit engen Kontakten zu China und Japan gibt es hier eine ganz praktische Konsequenz:

Da in Piktogrammen auch das wissenschaftliche Wissen stärker bildbetont repräsentiert wird, mit chinesischen Schriftzeichen oder dem Kanji, die jeweils einen anderen Assoziationsrahmen eröffnen, reden wir dann eigentlich im internationalen Diskurs über dieselben Dinge?

Gerade diese Probleme der Repräsentation des Wissens in verschiedenen Schriftsystemen gehört zu einer der faszinierenden Herausforderungen internationaler Forschung; man muss dieses Problem entdecken, um möglichen Missverständnissen aus dem Weg zu gehen.

Um das Lesen und seinen Ablauf technisch zu beschreiben, möchte ich eine kleine Geschichte konstruieren, die im Übrigen auch deutlich macht, dass das Lesen nicht etwas von Gott Gewolltes ist. Wir bekommen Besuch von Bewohnern aus einem anderen Sternensystem.

Die Besucher wollen uns persönlich näher kennen lernen, nachdem sie bereits indirekt viel über uns erfahren haben. Es war ihnen gelungen, an unser genetisches Material heran zu kommen.

Und sie hatten mit großem Aufwand ein Genomprojekt durchgeführt, um den genetischen Schlüssel von Menschen zu verstehen.

Nun wollten sie ihre Analyse durch persönlichen Augenschein überprüfen, also durch den Besuch zu verifizieren, was sie meinten, schon zu wissen. Was wussten sie aber bereits über uns, als sie ihr Projekt abgeschlossen hatten?

Ihnen war bekannt, dass Menschen mehrere Grundbedürfnisse haben. Sie wussten, dass Nahrung aufgenommen werden muss, und der Wärmehaushalt reguliert wird.

Sie waren also nicht überrascht, uns bekleidet zu sehen und ihr Vorwissen wurde bestätigt, als sie Häuser, Dörfer oder Städte sahen.

Sie wussten auch, dass Menschen Bedürfnisse nach Bewegung, nach Kommunikation, nach Sexualität haben, und so waren sie nicht überrascht, unser Verkehrswesen, bildliche Kommunikationsformen, familiäre Strukturen, Bindungs- und Entbindungsrituale im Zwischenmenschlichen zu beobachten.

All dieses konnte, wenn auch nicht im Detail, so doch im Prinzip, vorausgesagt werden. Die Besucher fühlten sich durch diese Beobachtungen in ihrer Analyse bestätigt, wenn es nicht ein störendes Element gegeben hätte: Menschen taten etwas, das nicht vorauszusehen war, das offenbar in den genetischen Anlagen nicht eingespeichert war.

Menschen hatten manchmal so genannte Bücher in der Hand, manchmal auch nur Blätter. Und ihre Augen richteten sich längerer Zeit auf bestimmte Zeichen. Abgewandt von der Welt wanderten die Augen über einzelne Zeilen, auf denen offenbar etwas zu finden war, was für sie wichtig schien.

Und manchmal waren sie so weltabgewandt, dass man vermuten musste, dass sie sich ihrerseits in einer anderen Welt aufhielten. Was war es, das die Besucher durch eine genetische Analyse nicht voraussagen konnten? Die Besuchten hatten offenbar eine Tätigkeit erfunden oder gefunden, die man als Lesen bezeichnet.

Lesen ist in den Genen nicht vorgesehen, aber durch die Gene des Menschen möglich. Im Einzelnen stellten die Besucher des anderen Sternensystems das Folgende fest, was das Lesen kennzeichnet.; dabei waren sie überrascht, wie viele Kompetenzen zusammen kommen müssen, damit man das Lesen verstehen kann.

Die Transduktionsprozesse in der Netzhaut, die aus physikalischen Ereignissen neuronal verwertbare Information machen, werden von Chemikern und Neurobiologen untersucht.

Es interessieren jene neuromolekulare Prozesse an den Sinneszellen, die dem Gehirn überhaupt erst einen Zugang zur Welt eröffnen. Die Netzhaut als Eingangstor des Lesens ist eine komplexe und vor allem auch inhomogene Struktur, deren Aufbau von Anatomen analysiert wird.

Diese untersuchen die Leitungsbahnen der Fasern, die das Auge verlassen und in verschiedene Gebiete des Gehirns ziehen. Hierbei ist eine Erkenntnis, dass die visuelle Informationsverarbeitung keine Einbahnstraße ist, sondern dass aufgenommene Informationen im Gehirn räumlich verteilt werden.

Der visuelle Cortex ist aus verschiedenen Komponenten zusammengesetzt, die unterschiedliche Zuständigkeiten haben.

Dies führt zu einer zentralen Grundfrage der Forschung: Wie wird alles zusammengesetzt, so dass ein Wort als Wort gelesen werden kann, oder ein Gesicht als ein Gesicht erkannt wird?

Beim Lesen richtet man jenen Punkt im Auge, der die beste Sehschärfe hat, auf jene Worte, die im gegebenen Augenblick im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.

Dieser Punkt in der Netzhaut ist ein anatomisch speziell gekennzeichneter Bereich, in dem die Sinneszellen besonders dicht angeordnet sind. Anatomische Bedingungen bestimmen also, wo beim Lesen hingeschaut wird.

Wie die  Informationen auf dem Augenhintergrund abgebildet wird, und wie das Licht mit seinen verschiedenen Wellenlängen von der Netzhaut und den davor liegenden Medien behandelt wird, ist Aufgabengebiet von Physikern. Und die technischen Fertigkeiten eines Optikers verlangt, wenn es hier Abweichungen gibt.

Die Besucher stellen auch fest, dass es offenbar eine unverrückbare Tatsache ist, dass sich mit zunehmendem Alter die Brechungseigenschaften der Linse im Auge so verändern, dass alle zunächst Normalsichtigen später eine Lesebrille tragen müssen.

Nachdem die optischen Daten bei Alphabetschriften, die Buchstaben also, in den Rezeptoren der Netzhaut zu Gehirninformationen geworden sind, fragen sich Physiologen, in welcher Weise Nervenzellen an den verschiedenen Stationen des Gehirns angesprochen werden müssen, also wie die optischen Daten geometrisch strukturiert sein müssen, um die Nervenzellen zu interessieren, diese also zur Erregung oder zum Schweigen zu bringen.

Eine Erkenntnis der physiologischen Hirnforschung ist, dass Nervenzellen an verschiedenen Schaltstellen des Gehirns unterschiedlichen Reizkriterien gehorchen, wobei hinsichtlich des Buchstabendekodierens wichtig ist, dass Nervenzellen im visuellen Cortex jeweils bevorzugt auf eine bestimmte Orientierung von Liniensegmenten reagieren.

Nervenzellen mit unterschiedlichen Eigenschaften sind aber räumlich von einander getrennt, sodass wiederum die Frage auftaucht, wie aus der räumlich getrennten Repräsentation der Liniensegmente die Wahrnehmung eines A im Gegensatz zu einem H möglich wird, also der Kombination eines Buchstaben aus verschiedenen Liniensegmenten. Diese Zusammensetzung ist in Piktogrammschriften noch erheblich komplizierter.

Wenn Menschen lesen, vollführen die Augen typische Blicksprunge über die Zeilen hinweg, wobei die Größe der Blicksprünge einerseits von der Größe der Buchstaben, andererseits aber auch vom Inhalt des Gelesenen abhängig ist.

Ein Problem, das hierbei deutlich wird, und das in eindrucksvoller Weise den Unterschied in der Informationsverarbeitung von Mensch und Maschine deutlich macht, ist der Folgende: In Computern wird Information sequenziell verarbeitet. Wenn Menschen lesen, dann nehmen Sinneszellen gleichzeitig an verschiedenen Orten des Gesichtsfeldes Information auf.

Es gibt also eine parallele Informationsverarbeitung. Das Gehirn ist hinsichtlich der Informationsverarbeitung durch eine Schnittstelle gekennzeichnet, bei der ein Übergang von paralleler zu sequenzieller Informationsverarbeitung erfolgt.

Diese Prozesse sind weder in der Hirnforschung, noch in den Computerwissenschaften bislang hinreichend verstanden, und die Besucher aus dem anderen Sternensystem beschlossen, dieser Frage nach ihrer Rückkehr auf ihrem eigenen Planeten genauer nachzugehen. Mit bildgebenden Verfahren kann man dem Gehirn bei seiner Arbeit zuschauen.

Es handelt sich hierbei um das MEG zu Erfassung schneller elektrischer Veränderungen im Gehirn, um fMRT zur funktionellen Beschreibung beteiligter Orte im Gehirn, oder um PET zur Erfassung chemischer Veränderungen und zur Beschreibung dynamischer Prozesse im Energieverbrauch oder in der Durchblutung des Gehirns.

Eine wesentliche Erkenntnis, die mit Hilfe dieser Verfahrung gewonnen worden ist, dass beim Lesen gleichzeitig verschiedene Areale des Gehirns aktiv sind. Diese Information kann nur gewonnen und dann bewertet werden, wenn Elektroingenieure, Nachrichtentechniker, Informatiker und Mathematiker zusammen arbeiten. Keine Fachrichtung allein könnte mit dieser Komplexität des Lesens im Gehirn allein umgehen.

Welches sind auf einer höheren Abstraktionsebene jene notwendigen Kompetenzen, die in der Sprache benötigt werden, miteinander zu kommunizieren und die auch für das Lesen gelten?

Grundbedingung für das Lesen ist, ein Wortwissen zu haben, eine lexikalische Kompetenz, ohne die das Gehirn hilflos wäre. Dabei gibt es offenbar sogar zwei Lexika, eines für Funktionswörter und eines für inhaltstragende Wörter, also Hauptwörter und Verben. Lexika allein reichen aber nicht aus.

Das Gehirn verfügt über syntaktische Kompetenz, also Grammatikfähigkeit. Diese Fähigkeit ist offenbar angeboren, denn die Kompetenz kann selektiv und mit einer interindividuellen Konstanz ausfallen.

Des Weiteren wird semantische Kompetenz benötigt, denn das Gelesene hat üblicherweise Bedeutung. Auch diese Kompetenz kann selektiv verloren gehen. Patienten mit dieser Störung haben noch ein Wortwissen, sie sprechen grammatikalisch korrekt, aber die Sprache macht keinen Sinn mehr.

Dann wird sprachlautliche Kompetenz benötigt, die zu den Alphabetschriften geführt hat. Bemerkenswert ist, welche großen Überlappungen die verschiedenen Sprachen bezüglich ihres phonetischen Repertoires aufweisen.

Alle Sprachen der Welt – und es sind wohl über 5000 – kommen mit einem phonetischen Repertoire von knapp 100 Sprachlauten aus. Schließlich ist Sprache durch prosodische Kompetenz gekennzeichnet, dass also die Melodie der Sprache die Gefühle zum Ausdruck bringt. Diese Kompetenz wird im Text nicht mehr berücksichtigt, und es ist die Herausforderung von Dichtern und Schriftstellern, sie zu simulieren.

Mit diesen Analysen über das Lesen würde man jedoch nur einen Teilbereich dessen erfassen, was Lesen auszeichnet. Die naturwissenschaftliche Seite des Lesens ist notwendig, aber nicht hinreichend, um zu verstehen, auf welche Weise die Welt der Vorstellungen, der eigenen Bilder, der Gefühle entsteht.

Die schriftstellerische Beschreibung und das dichterische Wort gehören einer anderen Kultur an. Doch wird das Bild aus dem Gedicht, die Vorstellung aus einem Roman oder auch der abstrakte Sinn aus einem Text nicht verfügbar, wenn nicht jene Strukturen ausgeprägt sind, die mit analytischen Verfahren untersucht werden.

Diese Tatsache verlangt, dass um Einblick in das Lesen zu erhalten, eine Zusammenarbeit zwischen Naturwissenschaftlern, Geisteswissenschaftlern und vor allem auch Künstlern notwendig ist.

Das gemeinsame Wirkfeld von Wissenschaftlern und Künstlern zeigt sich in einer bemerkenswerten Weise bei der zeitlichen Struktur von Gedichten.

Die meisten Gedichte sind dadurch gekennzeichnet, dass die Dauer einer gesprochenen Verszeile auf einer zeitlichen Bühne implementiert ist, die bis zu drei Sekunden dauert, und dies ist unabhängig von den Sprachen. Ein Beispiel von Heinrich Heine möge dies verdeutlichen und der Leser kann laut rezitierend den Ablauf der Zeit überprüfen:

Zu fragmentarisch ist Welt und Leben,
ich will mich zum deutschen Professor begeben;
der weiß das Leben zusammenzusetzen,
und er macht ein verständlich System daraus.

Ist die Verszeile länger, handelt es sich in unserem Kulturkreis um einen Hexameter, der durch eine Zäsur in der Verszeile gekennzeichnet ist.

Diese zunächst blass wirkende Faktum gewinnt eine faszinierende Wirklichkeit, wenn man feststellt, dass die Verszeile einen universellen Mechanismus der Gehirns repräsentiert. Aufeinanderfolgende Informationen werden vom Gehirn automatisch zusammengefasst, dies aber nur bis zu einer Dauer von etwa drei Sekunden.

Wahrnehmen, Erinnern, Entscheiden und Handeln sind zeitlich segmentiert, sodass nach jeweils etwa drei Sekunden ein neues Zeitfenster aufgemacht wird. Die zeitliche Bühne unseres Erlebens wird frei gemacht, um eine neues Bild, einen neuen Satz zu repräsentieren.

In regelmäßigen Schritten fragt das Gehirn „Was gibt es neues in der Welt?“ Im Gedicht kommen Sprechen, Lesen, Prinzipien der Informationsverarbeitung des menschlichen Gehirns und der künstlerische Akt zusammen.

Doch dies gilt nicht nur für das Gedicht. Im gut geschriebenen Text wird darauf geachtet, und dies geschieht meist implizit, da der Schriftsteller üblicherweise kein explizites Wissen von Prozessen des Gehirns hat, dass sein abgeschlossener Gedanke in einem Dreisekundenintervall ausgedrückt werden muss. Das Deutsch ist dadurch gekennzeichnet –

und hierzu besteht grammatikalisch die Möglichkeit, vor allem im schriftlichen Text – das Verb erst sehr spät in den Text einzubringen. Dies mag verwirren, doch fordert es auch in besonderer Weise die Aufmerksamkeit.

Diese Dreisekundenfenster des Gehirns spielt im Übrigen in der Typografie eine wichtige Rolle. Gut gesetzte Texte ermöglichen es, eine Zeile in etwa drei Sekunden aufzunehmen, wobei die Regelmäßigkeit des Satzspiegels entscheidend ist, um möglichst anstrengungslos das Gelesene aufzunehmen und zu verarbeiten.

Das Durchbrechen des Satzspiegels durch zu kurze oder unregelmäßige Zeilenlängen, um z. B. mit einem Bild eine Aussage zu machen, macht das Lesen anstrengend. Dass dies häufig versucht wird, zeigt auch, welche zunehmende Bedeutung Bilder erhalten.

Die eigentliche Katastrophe im Satzspiegel findet sich aber in Schulbüchern. Wenn aus Gründen, die vermutlich mit dem Sparen etwas zu tun haben, Zeilenlängen viel zu lang sind, wird damit den Kindern die Informationsverarbeitung erheblich erschwert. Kenntnisse der neuronalen Prinzipien würden hier helfen.

Wenn schon das Gehirn durch das Lesen missbraucht wird, dann sollten alle jene Faktoren berücksichtigt werden, die dennoch eine möglichst anstrengungslose Informationsverarbeitung ermöglichen.

Als die Besucher des fremden Sternensystems all dies über das Lesen erfahren hatten, reisten sie zufrieden wieder ab, mit neuen Hypothesen für ihre eigene Forschungsarbeit. Sie kamen zu der Überzeugung, dass Lesen eine durchaus kreative Leistung des menschlichen Gehirns ist, die aber durch einen Missbrauch des Gehirns erkauft wird.